Gastpredigt Stadtkirche Wittenberg: „Bewahrung der Schöpfung“
Gastpredigt von Dr. Ernst Paul Dörfler in der Stadtkirche Wittenberg – Mutterkirche der Reformation am 31.08.2017
Bewahrung der Schöpfung
“Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Und Gott sah an alles, was er gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut. Und Gott der Herr nahm den Menschen und setzte ihn in den Garten Eden, daß er die Erde bebaute und bewahrte.“
- Mose 1,1.31a; 2,15
Der Mensch erhielt also den biblischen Auftrag, die Erde zu bebauen und zu bewahren.
Doch was heißt das: „Bebauen und Bewahren“?
Und wie hat der Mensch diesen Auftrag erfüllt?
Diesen Fragen wollen wir uns heute zuwenden und nach Antworten suchen.
Bebauen, das hieß damals: Gärten und Weinberge anlegen und auf Feldern Getreide anbauen. Bebauen, das hieß auch: Wohnhäuser bauen, Dörfer und Städte anlegen. Die älteste Stadt der Erde ist Jericho in Palästina. Sie zählte damals, vor dreitausend Jahren, nur wenige tausend Einwohner, ganz ähnlich Wittenberg zu Luthers Zeiten. Für die Natur war damals noch viel Platz. Die Elbe war vor den Toren der Stadt noch mehrere Kilometer breit und hatte Tausende von Inseln. Diese naturbelassene Flusslandschaft, diese fruchtbaren Elbauen waren für Luther das Sinnbild das Paradieses:
Er übersetzte den 23. Psalm Davids auf der Wartburg mit folgenden Worten: „Der Herr ist mein Hirte; mir wird nichts mangeln. Er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser.“ Mit den Auen als Paradies hat Luther ein sehr treffendes Bild gewählt, das vom Volke verstanden wurde. Denn die Auen waren in der Tat eine Quelle des Lebens. Eine Lebensquelle, in der nur selten Mangel herrschte. Nicht nur frisches Trinkwasser und Fische, nicht nur Vögel und Wildtiere gab es in den Elbauen. Auch das Weidevieh fand fast rund ums Jahr Futter: Gräser, Kräuter, Blätter, Knospen und Früchte. Ja, selbst Äpfel reiften in den Auen, ganz so wie im Paradies.
Es fällt auf, dass Martin Luther kaum jemals ein Wort über die Natur im Allgemeinen und über die Elbe im Besonderen verlor, auch wenn er den Fluss auf seinen Reisen nach Magdeburg und Torgau immer wieder überqueren musste. Die Natur und der Fluss – sie war einfach da und für ihn wie für seine Zeitgenossen waren sie Normalität. Wie selbstverständlich wurde die Elbe genutzt. Luther verspeiste mit Vorliebe Fische und selbst Vögel landeten auf den Tellern seiner zahlreichen Gäste. Dass die Elbe als Quelle des Lebens einmal verschmutzt oder gar bedroht sein könnte – das war wohl für Luther nicht einmal ansatzweise vorstellbar.
Mit dem Beginn der Industrialisierung vor 200 Jahren änderte sich die Welt grundlegend. Die Bevölkerung explodierte und noch mehr explodierten die Bedürfnisse der Menschen, ganz besonders in den letzten Jahrzehnten. Der Mensch breitete sich aus, eroberte die Erde bis zum letzten Winkel, rodete die Wälder, legte Sümpfe und Moore trocken, um die Erde in seinem Sinne zu bebauen. Die Flüsse wurden begradigt und eingeengt, zu Wasserstraßen umfunktioniert und mit Abwässern befrachtet.
Auch wenn die schlimmste Verschmutzung in der Vergangenheit liegt, fließt in unseren Flüssen kein trinkbares, klares Wasser mehr. Die Erträge auf den Feldern sollen weiter wachsen. Chemische Dünger und Pestizide werden in Mengen eingesetzt, um die Erträge zu steigern, Gülle fließt in Strömen und das alles kommt auch in unserem Trinkwasser und im Flusswasser an. Wir fühlen uns gut, wenn die Ernteerträge pro Hektar steigen. Doch gleichzeitig verschwinden die Glockenblumen und Schmetterlinge unserer Kindheit aus der Landschaft. Zur Schöpfung zählt nicht nur der Mensch, seine irdischen Mitbewohner gehören ebenso dazu, sie haben ein gleiches Recht auf Leben. Die Vögel der Felder und Wiesen werden aber immer schweigsamer und die Bienen summen nicht mehr. 1300 Pflanzen- und Tierarten sind allein in Sachsen-Anhalt verschwunden, ausgestorben oder verschollen, das vermeldete vor wenigen Tagen die Landesregierung. In den letzen 30 Jahren, so teilte die Bundesregierung mit, hat sich in Deutschland die Zahl der Vögel halbiert. Sie sind fort, nicht etwa ausgewandert, nein, sie exisiteren nicht mehr. Warum? Der Vogelnachwuchs verhungert in der Agrarlandschaft, weil es keine Insektennahrung mehr gibt. Lerchen, Kiebitze und Rebhühner, noch vor wenigen Jahren häufige Allerweltsvögel, trifft man nur noch selten oder gar nicht mehr in Gottes freier Natur an. Das Perverse: Während die Vögel mit ihren bescheidenen Ansprüchen verhungern, leiden zwei Drittel der Männer und die Hälfte der Frauen in Deutschland an Übergewicht.
Im „Bebauen“ sind wir Weltmeister, im „Bewahren“ klägliche Verlierer.
„Bebauen und bewahren“ – passt das überhaupt zusammen?
Es scheint ganz so, als legten wir Menschen mehr Wert auf das „Bebauen“ und vernachlässigten das „Bewahren“. Straße scheint uns wichtiger als Baum, Wasserstraße wichtiger als Fluss, Gewerbegebiet wichtiger als Hamsterlebensraum, Wintersportzentrum lukrativerer als Moorwald. Sobald das große Geld lockt, ist eine Baumaßnahme höher zu bewerten als das Bewahren der Schöpfung. Bauen – das heißt oft Natur verdrängen, nicht selten auch irreversibel zerstören. Ist das grenzenlose Bauen, der Glaube an das ewige Wachstum vielleicht der moderne Sündenfall? Kann das auf Dauer gut gehen? Die Krisen nehmen kein Ende: Klimakrise, Finanzkrise, Flüchtlingskrise, Terrorismus.
„Im Schweiße deines Angesichts sollst Du den Acker bebauen“, so ist im 1. Buch Mose zu lesen. Es war die Ansage nach dem Sündenfall im Paradies. „Im Schweiße unseres Angesichts“ werden wir mit diesen herbeigeführten modernen Krisen und Völkerwanderungen noch lange leben müssen, denn ihre Ursachen wurden lange Zeit verdrängt. Und mit noch viel mehr „Schweiß unseres Angesichts“ werden wir diese Entwicklung wieder umkehren und die Erde renaturieren müssen! Der Schweiß des jahrhundertelangen Bebauens wird gar nichts dagegen sein.
Oft fühlen wir uns ohnmächtig und sehen nur noch zu oder schauen gar weg, wie die Reste von Natur weiter zerstückelt und verbraucht werden. In Wahrheit aber sind wir die Entscheider. Wir Menschen können mitbestimmen, was mit der Schöpfung passiert und was nicht.
Als Verbraucher wollen wir alles möglichst billig. Aber auf wessen Kosten? Unser rasant steigender Konsum nagt an der Schöpfung. Ja, der Konsumrausch frißt die natürliche Vielfalt, die natürliche Schönheit, das kostenlose Glück, auch das unserer Kinder und Enkel. Statt Himmel und Erde, statt die Schöpfung zu achten, plündern wir sie, rauben sie aus und vergiften sie weiter. Wir suchen unser Glück im Kaufen unnützer Dinge, die immer schneller zu Müll und Abfall erklärt werden, um Platz für Neues zu schaffen. Ein Drittel unserer Lebensmittel landet auf dem Müll! Wir schwimmen im Überfluss und haben als Verbraucher jedes vernünftige Maß, jede Wertschätzung für das tägliche Brot verloren.
Mit dem „Immer-Mehr“ und mit dem „Immer schneller“ wächst auch unsere Selbstausbeutung. Der Leistungsdruck holt das Letzte aus uns heraus. Wir machen nicht nur die Natur, wir machen auch uns selbst kaputt. Es wird höchste Zeit zum Innehalten, zum Wahrnehmen. Als Christen sind wir ganz besonders dazu berufen, ja, verpflichtet, sorgsam mit der Schöpfung umzugehen. Christlicher Glaube und christliches Handeln gehören zusammen.
Was können wir tun, um das Schöpfungswunder zu retten? Wir haben unendlich viele Möglichkeiten, sofern wir dazu bereit sind, uns der Herausforderung zu stellen. Mir bereitet es z. B. großes Vergnügen, immer weniger Strom, Öl und Gas zu verbrauchen, um unsere Energievorräte und unser Klima zu schonen. Das Überleben von wildwachsenden Pflanzen und wildlebenden Tieren kann ich und jeder von uns unterstützen, indem man ökologisch erzeugte Nahrungsmittel bevorzugt. Weniger Fleisch essen – und wenn, dann aus artgerechter Haltung – das hat viele positive Effekte auf Mensch, Tier und Umwelt.
Ein Großteil unserer Produkte kommt aus fernen, sehr armen Ländern. Sie sind besonders billig, weil dort Mensch und Natur, ja, selbst Kinder ausgebeutet werden. Auf gerechte und faire Preise und auf nachhaltig erzeugte Produkte zu achten, dazu mahnt schon Matthäus 25,40: Was wir der Natur antun, das tun wir Gott selbst an. Im Märchen von Frau Holle zeigt uns die Goldmarie, was zu tun ist: Sie zieht das Brot aus dem Ofen und schüttelt die Äpfel von den Bäumen, nicht, weil sie dafür entlohnt wird, sondern weil ihre Natur es so verlangt, weil Brot nicht verbrennen darf und weil Äpfel nicht gereift sind, um zu Verfaulen!
Seinen eigenen Lebensstil zu ändern, ihn stärker auf das „Bewahren“ auszurichten, scheint im ersten Moment eine hohe Hürde zu sein. Wie wäre es, statt Shoppen zu gehen lieber einen Spaziergang durch die Natur zu unternehmen? Statt eine Flugreise zu buchen oder hunderte Kilometer mit dem Auto zu fahren lieber den Elberadweg entdecken oder Vögel beobachten? Dazu sollten wir uns Zeit nehmen.
Wie wäre es damit: Statt Fastfood zu verschlingen lieber Freunde einladen und gemeinsam kochen und speisen? Statt sich neue Möbel oder ein größeres Auto zu kaufen lieber eine Spende für hungernde Kinder zu überweisen? Sich Geschichten vorlesen, gemeinsam Lieder singen oder musizieren – das alles kostet nichts, verbraucht nichts und zerstört nichts. Es macht wenig Aufwand und bereitet viel Freude – uns selbst und unseren Mitgeschöpfen.
Begeben wir uns ernsthaft auf den Weg des „Bewahrens“, dann werden wir feststellen, dass unser Leben leichter, schöner und besinnlicher wird. Dem „Bebauen“ und „Verbrauchen“ müssen wir offenbar Grenzen setzten, auch ganz persönliche Grenzen, entschiedene Grenzen, damit es am Ende auch für unsere Kinder und Enkel heißen kann: „Und siehe, es war sehr gut“. Amen.